Beschreibung
Einführung von Inge Buck zur Buchpremiere von „Dann sind wir auf der Erde erwartet worden”:
Wir jungen Leben
du alter Tod
fliegen aufeinander
zu werbend
Mit diesem Motto von Rose Ausländer eröffnet Ulrike Gies ihre Reflexionen zu Walter Benjamins Leben und Tod und seinem Werk, wobei der Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen vom Ende her gesehen ist: von der Suche nach einem Grabplatz in der Nähe des spanischen Ortes Portbou.
Ulrike Gies, 1953 in Dortmund geboren, studierte Soziologie, Publizistik und Philosophie in Münster, sie lebte und schrieb in Berlin, seit langem nun in Bremen, sie veröffentlicht Kurzprosa, Gedichte und Romane, zuletzt die beiden Titel Der Tod, ein Volksfest und Kochbuch der Toten.
Mit ihrer Arbeit über Walter Benjamin will die Autorin keine traditionelle Biografie schreiben, keine klassische literaturtheoretische oder literatururwissenschaftliche Analyse – trotz der umfangreich aufgeführten Literaturliste im Anhang. Vielmehr nähert sie sich ihrem Gegenstand werbend, umkreisend, mäandernd in Form einer multiperspektivischen Erzählung. „Benjamin Lesen“ schreibt sie, „heißt Staunen, Erkennen, Fragen, Schwelgen, Niederknien.“
Der Leser ihrer Arbeit ist aufgefordert, aus den assoziativ zusammengesetzten Fundstücken und Splittern sich selbst ein inneres und äußeres Bild zu machen vom Leben und Schreiben Walter Benjamins. Etwa im Sinne des französischen Schriftstellers Francis Ponge, wenn er schreibt: „Also ist es einzig der Leser, der das Buch macht, er selbst, indem er es liest.“
Walter Benjamin, 1892 in Berlin geboren, 1942 durch Suizid bei seinem Fluchtversuch in die USA an der französisch-spanischen Grenze gestorben, „war ein Philosoph“, schreibt Gershom Scholem, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, „äußerlich gesehen schrieb er meistens über Gegenstände der Literatur und Kunst, oft auch über Phänomene an der Grenze von Literatur und Politik. Aber was ihn bei alldem bewegte, sind die Erfahrungen des Philosophen.“
Der Blick Ulrike Gies‘ auf Leben und Werk von Walter Benjamin gilt nicht primär der theoretischen Analyse seiner philosophischen und kulturkritischen Werke – die Gesammelten Schriften umfassen mit über 2000 Seiten 7 Bände – sondern eher den Lebensbedingungen und Lebens-Unmöglichkeiten, die hinter dem Werk verborgen sind oder diesem vorausgingen: etwa seinem Arbeitsplatz in der Bibliothèque Nationale in Paris oder einem Engelsbild von Paul Klee, das Benjamin besaß, seiner Geldarmut, seinem Drogenkonsum oder seiner Beziehung zu Frauen.
In Briefen und imaginären Gesprächen mit Anna – mit Annemarie Blaupot ten Cate, der niederländischen Malerin, die Benjamin auf Ibiza kennenlernte, seiner einzigen Liebe, über die er schreibt – nähert sich die Ulrike Gies in literarischen Reflexionen und Impressionen empathisch dem inneren und äußeren Bild Benjamins.
Und immer geht es Ulrike Gies um das Schreiben. Sie befasst sich besonders mit Benjamins Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen, mit dem Schreibwerkzeug, mit dem Ort des Schreibens, mit dem Verhältnis von Form und Inhalt. Und mit dem Schreiben als Lebens- und Überlebensform. Benjamin „Lass Dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe Dein Notizheft so streng wie die Behörden das Fremdenregister. Höre niemals auf, zu Schreiben.“
In biografischen Einblendungen auf Kindheit, Körperlichkeit oder Kriegsuntauglichkeit, auf seine Unfähigkeit, irgendwo Fuß zu fassen, oder auf den Selbstmord des Freundes Heinle und seiner Verlobten, umkreist die Verfasserin in immer neuen Ansätzen das Motiv Suizid, das sich durch Benjamins gesamtes Leben zieht.“ Mit dem Tod teilte er seine Einsamkeit“.
Es geht in dem Buch um das Ausleuchten blinder Flecken, um die Grenzen von Tod und Leben, um die Sichtweise auf das Drama der Flucht über die spanische Grenze: Die spanischen Grenzer sahen, dass Benjamin sich umgebracht hatte, sie waren so betroffen, dass sie Benjamins Begleiter ins Land hineinließen, und diese schafften es dann auch bis Portugal und von dort in die USA. Benjamins Tod rettete also Leben.“
Mit den Themen Flucht und Exil reiht sich die Veröffentlichung von Ulrike Gies über Walter Benjamin ins Programm des Bremer Sujet Verlag mit der Thematik der inneren und äußeren Migration, zuletzt mit dem „Kleinen Buch der Migration“ von Pedro Kadivar, einem Essay über die Bedeutung der Migration in der Kunst- und Literaturgeschichte.
Ulrike Gies, die Grenzgängerin, hat es gewagt, die Fülle der Benjamin-Biografien, Interpretationen und Würdigungen um eine weitere subjektive Arbeit aus ihrer Perspektive als Schriftstellerin zu schreiben. Mit ihrem Buch „Das Laboratorium Walter Benjamin“ eröffnet sie einen ungewöhnlichen Zugang zur Verbindung von Leben und Werk und sie lenkt zugleich den Blick des Lesers darauf, Benjamin erneut zu lesen.
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