Rezension von Eike Wienbarg zum neuen Band der Stolpersteine

Die Geschichte hinter den Namen

Eike Wienbarg 18.10.2020 im Weser-Kurier

In drei Beiträgen für das neue Buch „Stolpersteine in Bremen – Biografische Spurensuche – Neustadt“ widmet sich die Sykerin Ilse Zelle der Familie Polak, die auch in Weyhe lebte.

Syke/Weyhe/Bremen. Der Name der jüdisch-christlichen Familie Polak ist eng mit der Gemeinde Weyhe verbunden. So wurde im Jahr 1995 eine Straße nach Carl Polak benannt, sein Sohn Otto ist Ehrenbürger der Gemeinde. Über das Leben von Otto Polak hat die Syker Autorin und ehemalige Lehrerin der Kooperativen Gesamtschule (KGS) Brinkum Ilse Zelle bereits im Jahr 2010 ein Buch verfasst. Anlässlich ihres Projektes Spurensuche zu Themen aus der Zeit des Nationalsozialismus‘ in der Region lud sie gemeinsam mit ihren Schülern Otto Polak auch in die Schule ein. Nun hat sich Zelle mit der Geschichte von Polaks Vater Carl, seinem Onkel Siegfried und seiner Großmutter Adele beschäftigt. Für den sechsten Band der Reihe „Stolpersteine in Bremen – Biografische Spurensuche“, der sich um die Stolpersteine in der Bremer Neustadt dreht, verfasste Zelle die Kurzbiografien der drei von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Bürger.

Für das neue Buch stieg Zelle noch tiefer in die Geschichte der Familie Polak ein, als sie es zuvor getan hatte. So stammt die Familie ursprünglich aus dem ostfriesischen Ort Oldersum im Landkreis Leer, berichtet die Sykerin. Dort besaßen Jakob Polak und seine aus Hamburg stammende Frau Adele, geborene Goldschmidt, eine Viehhandlung mit angrenzender Schlachterei. „Sie hatten ein Haus und hinten wurde geschlachtet“, hat Zelle recherchiert. 

Die Familie hatte insgesamt sieben Kinder: Ludwig, Carl, Siegfried, Emma, Dora, Therese und Elise. Als der Vater Jakob im Jahr 1915 starb, übernahm zunächst seine Frau die Geschicke des Familienbetriebes, da die Söhne noch zu jung waren. Vermutlich aufgrund der sinkenden Rinderpreise und der aufkommenden Arbeitslosigkeit rund um Leer zog die Familie im Jahr 1927 nach Bremen an die Graudenzer Straße, so Zelle weiter. 

Auch in der Hansestadt widmeten sich die Polaks dem Viehhandel. 1932 übernahm Sohn Siegfried die Geschäfte von seiner Mutter. Sein Bruder Carl wiederum heiratete im selben Jahr Johanne Jacobsohn, die Tochter eines Viehhändlers aus Kirchweyhe, und zog mit ihr in ein Haus in den Ortsteil der heutigen Gemeinde Weyhe. „Die Trauung fand im Bremer Dom statt, da der Kirchweyher Pastor und Superintendent keine Juden trauen wollte“, berichtet Zelle. Ihr Sohn Otto wurde im Jahr 1933 geboren und in Bassum getauft. „Otto ist Christ“, sagt Zelle weiter.

Repressionen und Deportation

Im Jahr 1938 musste Siegfried Polak dann seinen Viehhandel aufgrund von Repressionen durch das NS-Régime und des Entzugs der Gewerbeerlaubnis schließen. Nach der Heirat mit seiner Frau Gesela zog er zu ihr an die Yorckstraße in der Bremer Neustadt. Ebenfalls im Jahr 1938 trennten sich sein Bruder Carl und seine Frau Johanne, sodass Carl aus Kirchweyhe zurück zu seiner Mutter nach Bremen zog. Wenig später wurden beide genötigt in das „Judenhaus“ an der Nordstraße zu ziehen.

Ein Jahr später folgte die Deportation der Familie ins Ghetto nach Minsk. So wurden Adele und Carl sowie Siegfried und seine Frau Gesela am 18. November 1941 mit dem Zug abtransportiert. In Hamburg mussten dann auch die Schwestern Therese und Elise mit ihren Familien den Zug besteigen und wurden von den Nationalsozialisten in den sicheren Tod geschickt. Die genauen Todesumstände in Minsk sind dabei nicht geklärt, sagt Ilse Zelle. So starben viele Gefangene vor Ort im Winter 1941/42 durch Hunger, Kälte oder die Willkür und Folter der SS. Viele fielen den Massenmordaktionen zum Opfer, die im Sommer des Jahres 1942 begannen. 

Carls Sohn Otto Polak wuchs nach der Deportation seines Vaters und dem Tod seiner Mutter im Jahr 1942 als Vollwaise auf und stand im Jahr 1945 selbst vor der Deportation in das Ghetto Theresienstadt. Obwohl er christlich getauft war, galt er im NS-Régime als sogenannter „Dreiviertel-Jude“ und damit als „Voll-Jude“, musste den Judenstern tragen und wurde daher ausgegrenzt, sagt Zelle. „Er ist entsprechenden Hänseleien und Gewalt ausgesetzt gewesen“, so die Sykerin weiter. Nur durch Hilfe eines Arztes gelang es, Otto Polak vor der Deportation zu bewahren. Über den Tod seines Vaters erfuhr er später von einem ehemaligen Mitarbeiter seines Großvaters, der als Wachsoldat in Minsk eingesetzt war, dass Carl Polak vermutlich vergast wurde, schreibt Ilse Zelle in dem neuen Buch. „Es ist eine traurige Geschichte“, sagt sie.

Nach dem Krieg widmete sich Otto Polak der Erinnerungsarbeit. Mehrfach trat er in Schulen in Stuhr und Weyhe auf und berichtete von seinem Schicksal und dem seiner Familie. Auch engagierte sich Polak im Sportverein, nahm das Sportabzeichen ab und legte es selbst bis ins hohe Alter ab, erzählt Zelle, die Otto Polak auch als Namensgeber für das neue Kultur- und Bildungszentrum (KBL) am Leester Henry-Wetjen-Platz ins Spiel gebracht hat. Gerade aufgrund seines Engagements für Bildung eigne sich der Name sehr gut, findet Zelle. So hat sich Polak, dem es in seiner Jugend ab 1939 aufgrund seiner Herkunft nicht mehr erlaubt war, die Volksschule in Kirchweyhe zu besuchen, nach der Befreiung Deutschlands vom NS-Régime durch die Alliierten selbst fortgebildet und eine Ausbildung als Gärtner absolviert.

Die Stolpersteine in Gedenken an seine Großmutter, seinen Vater und seinen Onkel liegen heute an der Graudenzer Straße und der Yorckstraße in Bremen. In ihrer Buchreihe zu den Stolpersteinen befassen sich die Herausgeber Barbara Johr und Peter Christoffersen seit Jahren mit den Biografien hinter den Namen der Toten und fragten nun für den Teil über die Bremer Neustadt bei Ilse Zelle an. Da habe sie natürlich nicht Nein gesagt, so die Sykerin über ihre Engagement für das Buch.

Zum Glück habe ich die Recherche vor Corona begonnen“, sagt Zelle rückblickend über ihren Forschungsprozess. So nahm sie unter anderem Kontakt mit Klaus Euhausen auf, der sich mit der Geschichte des Ortes Oldersum beschäftigt. Auch recherchierte Zelle im Bremer Staatsarchiv sowie im Stadtarchiv Wilhelmshaven und im Archiv in Oldenburg. „In Bremen habe ich einen ganzen Aktenberg bekommen“, sagt sie über die Unterlagen zu Erbangelegenheiten oder die Rückführungsakten für Immobilien. In Oldenburg hingegen stieß sie nach eigenen Angaben auf eine andere Familie Polak. „Dann konnte ich Oldenburg streichen“, erzählt Zelle. Im Wilhelmshavener Archiv ging es dann vor allem um die Daten von Siegfried Polaks Frau. Während des Lockdowns habe sie dann entspannt an den Unterlagen arbeiten können, sagt Zelle.

Die ehemalige Lehrerin ist immer noch fasziniert von der Recherche in den historischen Dokumenten und Quellen. „Das ist ein Stück Geschichte, das lebendig wird“, sagt Ilse Zelle. „Dann fängt es an, spannend zu werden“, ergänzt sie.

Die drei Kurzbiografien, die Zelle zu dem neuen Buch beigesteuert hat, sind jeweils zwei Seiten lang. Längere Versionen davon sollen später noch ins Internet gestellt werden, erzählt sie. Zunächst soll das Buch über die Stolpersteine in der Bremer Neustadt am kommenden Mittwoch, 21. Oktober, ab 19.30 Uhr bei einer Präsentation im Bremer Theater am Leibnizplatz vorgestellt werden. Ilse Zelle möchte dann ebenfalls dabei sein.


Die Buchpräsentation zum Sammelband „Stolpersteine in Bremen – Biografische Spurensuche – Neustadt“ findet am Mittwoch, 21. Oktober, ab 19.30 Uhr im Theater am Leibnizplatz, Schulstraße 26, in Bremen statt. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen. Anmeldungen unter der Rufnummer 04 21 / 50 03 33 sind erforderlich. Weitere Informationen zum Projekt Spurensuche von Ilse Zelle und ihren Schülern und dem Leben von Otto Polak gibt es auch unter www.spurensuche-online.net.

Zur Sache

Stolpersteine

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig. Die Steine, die an die Opfer des NS-Regimes erinnern sollen, werden von ihm am letzten selbstgewählten Wohnort der Menschen in den Bürgersteig eingelassen. Mittlerweile wurden laut Demnig in mehr als 1200 Kommunen in Deutschland und in 21 Ländern Europas solche Stolpersteine verlegt. Neben viel Lob für das Projekt gab es auch immer wieder Kritik. So wurde moniert, dass durch die Einlassung der Steine in den Bürgersteig die Opfer „mit Füßen getreten werden“, andere kritisierten die Aufschriften der Gedenksteine, die teils mit Nazi-Jargon beschriftet sind. Ilse Zelle findet die Idee der Stolpersteine hingegen gut. „Es ist ein Gedenken an die Geschehnisse der NS-Zeit“, sagt sie. Weitere Informationen zu den Stolpersteinen gibt es im Internet unter www.stolpersteine.eu.

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