„Im Individuellsten wird das Allgemeine sichtbar“, teilt uns Adorno mit. Er hätte Inge Bucks persönlich gefertigte Rüstung gegen einen unsichtbaren Feind zu schätzen, womöglich zu nutzen gewusst.”
Von Autor*innen, die im Leben stehen, wird er fast erwartet, ihr Beitrag zu der Pandemie, die unsere Gegenwart bestimmt. Dass auch Inge Buck hellhörig geworden ist, verwundert nicht, überschreitet sie doch schon lange mit ihren Texten Grenzen und bietet Ansätze für Verständigung.
Corona Tagebuch steht denn auch über Inge Bucks jüngstem Werk, und sein aus dem Französischen zitierter Titel verrät schon etwas von ihrer persönlichen Einstellung:
Lieber sterbe ich, als nicht zu küssen.
Der Titel mag Inge Buck erst bei der Arbeit gekommen sein, hat sie doch nur ganz für sich selbst im Februar mit den Tagebuch-Einträgen begonnen, mit dem Einsammeln von Wortfetzen, Stimmungen, Beobachtungen zur Pandemie, uns allen in dieser Zeit zu Ohren und Augen gekommen. Als sie unsicher wird über Sinn und Qualität, lässt sie einen Freund mitlesen, und der bestärkt sie, – zum Glück! – weiter zu machen.
So verpflichtet, bezieht die Autorin mehr Quellen ein, telefoniert, recherchiert, teilt den Menschen, die sie in ihrer Wahlstadt Bremen (noch!) regelmäßig trifft. Plätze im Tagebuchblatt zu. Entdeckt hypochondrische Züge an sich. Ärgert sich über vergebliches Warten auf-die-Leipziger-Buchmesse. Stärkt sich an wiederentdeckten oder ohnehin präsenten, literarisch ähnlich Gesinnten, wie etwa Doris Lessing.
Inge Bucks Tagebuchblätter enden „schon“ um Ostern, dem für uns eigentlich menschennahen und singfreudigen Fest. Eigentlich nur ein kleiner Packen Blätter, neben dem man sich inzwischen einen wachsenden Berg denken muss, dessen Gipfel keiner kennt. Vielleicht werden deshalb die Gedanken und Beobachtungen von Inge Buck, mit ihrem gewissen Gleichmaß aus frühlinghaftem Alltag und immanent verletzlichen Corona-Meldungen so etwas wie eine hilfreiche Geste
„Im Individuellsten wird das Allgemeine sichtbar“, teilt uns Adorno mit. Er hätte Inge Bucks persönlich gefertigte Rüstung gegen einen unsichtbaren Feind zu schätzen, womöglich zu nutzen gewusst.
Übrigens auch die kongenialen Vignetten von Gunther Gerlach, aus seinem Pinsel geflossene Zeit-Symbole, die sich nach der Ruhe asiatischer Formen zurücksehnen.
„Es gibt nichts Nennenswertes zu tun“, meint am Schluss Inge Buck vor der Kulisse einer still gewordenen Stadt. Ich meine, da widerspricht sie sich ausnahmsweise einmal selbst!
In: KULTUR.NETZ – Zeitschrift der verdi. (Kulturzeitschrift des VS Niedersachsen/ Bremen) 2020 Heft 3.
Eva Korhammer